ANNETTE VONBERG
Author
Aus der "éthique miniature"
A Silver Tetradrachm, Athens, ca. 480-420 B.C.
1.
Eine Miniatur gleicht einem kostbaren Edelstein.
In einer Welt voller ungeformter Dinge leuchtet sie blitzartig auf und bringt für einen Augenblick die geheime Ordnung der Dinge ins Sichtbare filigraner Verfeinerung.
Sie zu begreifen heißt, sich dem verschlüsselten Geheimnis anzunähern, das entweder im Äußersten oder im Innersten der Dinge liegt, an der Grenze des Wahrnehmbaren.
Nur dann kann die Entzifferung gelingen, wenn der Code aus dem Gedränge zinnoberner Zeichen selbst erlesen wird.
Solange es Miniaturen gibt, - und jedes Werk der Kunst und des Denkens, das uns anspricht, ist eine Miniatur, mit mehr oder weniger viel Muttergestein -, darf vom Bestehen einer Ordnung der Dinge ausgegangen werden.
2.
Ethik ist eine persönliche Angelegenheit.
Das heißt nicht, daß Ethik ohne gesellschaftliche Relevanz wäre, im Gegenteil.
Ethik ist von höchster gesellschaftlicher Relevanz.
Umso wichtiger ist es festzustellen, daß es eine kollektive Ethik weder gibt, noch geben kann.
Ethik ist die Ethik einer bestimmten Person, oder es ist keine Ethik.
Ihre Inhalte sind einzigartig und singulär.
Sie existieren nicht vor der Person, die sie erkennt.
Sie sind nicht transzendental.
Ethische Erkenntnisse sind persönliche Erkenntnisse.
Sie haben nur für die sie erkennende Person Gültigkeit.
Sie können nur von dieser Person praktiziert werden.
Wenn wir ganz genau sein wollen, müssen wir sogar sagen: eine ethische Erkenntnis kann nur zur einem bestimmten Zeitpunkt von der sie erkennenden Person praktiziert werden.
Weil nicht nur die Person, sondern auch ihre ethischen Erkenntnisse sich entwickeln.
Daß ethische Erkenntnisse persönlich und zeitrelatiert sind, heißt nicht, daß sie einen geringen oder gar keinen Wahrheitswert hätten.
Sondern daß Erkenntnis und Erkenntnisprozess sich nicht trennen lassen.
Erkenntnis ist Erkenntnisprozess.
Sollte sie deshalb als objektive unmöglich sein?
Entweder objektive Erkenntnis ist möglich oder nicht.
Da die Behauptung, objektive Erkenntnis sei unmöglich, sich selber zu Fall bringt, ist die Annahme, daß objektive Erkenntnis möglich sei, vorzuziehen.
In welchem Maß eine Erkenntnis subjektiv oder objektiv ist, ist eine Frage, die sich nur von Fall zu Fall entscheiden läßt.
Reduktionen ergeben sich seltener aus der Reduziertheit einer Sache als aus der Reduziertheit ihres Betrachters.
Eine der folgenreichesten Reduktionen ist diejenige, welche Objektivität auf Unveränderlichkeit festlegt und aus objektiver Erkenntnis sämtliche veränderlichen, d.h. prozesshaften und sinnlichen Faktoren ausscheidet.
Nicht einmal das Tote ist unveränderlich.
Und auch die einfachste mathematische Erkenntnis 1+1=2 ist Erkenntnisprozess.
Daß man so großen Wert auf Unveränderlichkeit und Identität gelegt hat, ist eine Frage der Beherrschung.
Oder besser: des Mangels an Beherrschung.
Weshalb sollte irgend etwas mit irgend etwas anderem identisch sein?
Wenn zwei Personen in ethischen Fragen übereinstimmen, dann setzt das einen persönlichen Erkenntnisprozess beider Personen voraus.
Ganz werden sie nie übereinstimmen, weil sie zwei verschiedene Personen sind.
Und warum sollten sie auch?
3.
Ethische Überzeugungen, die nicht persönlich gewonnen, sondern übernommen worden sind, sind a-ethisch.
Sie sind wie Prothesen.
Oder wie künstliche Blüten an einem echten Baum.
Das A-Ethische ist das Unpersönliche.
Das A-Ethische ist das Unethische zweiten Grades.
Ein Indikator für unethisches Verhalten ist das Gefühl der Schuld.
Entweder fühle ich mich schuldig, weil ich meinen eigenen ethischen Maßstäben nicht folge, oder ich fühle mich schuldig, weil ich den ethischen Maßstäben anderer nicht folge.
Im ersten Fall habe ich ein ethisches, im zweiten Fall ein psychologisches Problem.
Jede Person, die sich entwickelt, - und jede Person entwickelt sich -, hat Probleme.
Die Empfindung von Schuld und Unschuld ist wie die Nadel eines Kompasses.
Solange wir uns bewegen, ist die Nadel in Bewegung.
Es sei denn, wir haben sie fixiert.
Ein fixierter Kompass zeigt garnichts.
Es ist nicht sicher, daß wir immer Kurs halten können.
Besonders, weil wir unseren Kurs immer neu an die Gegebenheiten unserer Entwicklung anpassen müssen.
Entweder wir werden zu geübten Navigatoren, oder wir laufen früher oder später auf Grund.
Drehen wir uns auf unserer Fahrt um und lassen unseren Blick die Küste zurückschweifen, so sehen wir ein gestrandetes Schiff nach dem anderen.
Die Kunst, unser Schiff wieder flott zu machen, ist eine unserer besten Fähigkeiten.